Meine Zeit in der Klinik - Phase 3 - Trauer

24.09.2024

Am Tag nach meinem intensiven Breakdown auf der Wiese fühlte ich mich 10 Kilo leichter und seltsamerweise voller Liebe. Ich wollte am liebsten meine Mitpatienten umarmen und diese Liebe verschenken. Ich habe echt tolle Leute dort kennengelernt und es hat sich über die Zeit angefühlt, wie bei einer Familie zu sein.

Eines Abends gingen wir in den Stadtpark, in dem eine kleine Singer-Songwriter Band aufgetreten war. Im Anschluss liefen Oldies, auf die ich und drei Mitpatientinnen ausgelassen tanzten. Es war wirklich wunderschön und so kraftgebend. Wir planten einen Tanzabend zu organisieren und diese Freude an der Musik und der Bewegung mit den anderen Patienten zu teilen.


So schön wie dieser Abend war, so schrecklich war der Tag danach. Ich erwartete Besuch von meinen Eltern und wurde in der Nacht von einem unheimlichen Albtraum beschenkt.

Ich schrieb ihn auf und teilte ihn am Morgen danach meiner Therapeutin mit.


Auszug aus meinem Tagebuch: Der Traum

Ich bin nachts in einer Stadt mit meinen Eltern unterwegs. Die Straße ist nass und reflektiert die leuchtenden Reklametafeln und die Lichter der Autos. An einer Straßenecke bleibt mein Vater stehen und beschwert sich bei meiner Mutter über mein Verhalten. Ich kann nicht hören, was es ist. Aber es ist eine alte Erinnerung, eine alte Version von meinem Vater, die ich fast vergessen habe. Er hört gar nicht damit auf und schimpft weiter, während ich ein wenig abseits an irgendetwas Großem zu werkeln schien.

Wir stehen dann auf einem Plateau mit Geländer, das ein paar Gebäude miteinander verbindet und man kann weit hinunter sehen. Mein Vater ist noch immer am zetern und ignoriert mich völlig. Bei ihm stehen meine Mutter und ein paar fremde Männer in Anzügen. Ich bin plötzlich eine Einhorn-artige Gestalt, trotzdem menschlich, aber auch wieder nicht. Mit zarten, langen, dünnen Beinen und weißer, leuchtender Haut. Meine nun weißen und langen Haare schweben in der Luft wie unter Wasser. Ich bin sehr viel kleiner als meine Eltern und sehe ihnen nur von unten in die Augen, als ich irgendetwas zu ihnen sage. Sie hören mich nicht. Dann sage ich einen letzten Satz und lächle dabei, als hätte ich mich gerade verabschiedet. Dann drehe ich mich um und laufe leichtfüßig, als würde ich auf dem Mond schweben, zur anderen Seite des Plateaus und klettere über das Geländer. Dann springe ich.

Ich falle nicht, ich schwebe langsam zu Boden.

Dann wieder.

Und wieder.

Die Szene wiederholt sich und geht nie zu Ende.

Ich sehe immer wieder zu meinen Vater, doch er sieht mich nicht, spricht nur weiter mit den fremden Männern über mich.

Die Figur bin nicht mehr ich, sondern eine fremde Gestalt.

Sie springt und fällt und schwebt.

Sie kommt nie unten an.

Ich will, dass mein Vater es sieht. Dass er sieht, was passieren kann.


Meine Eltern kamen zu Besuch und wir gingen zu einem Restaurant, in dem ich reserviert hatte. Ein weiterer Auszug aus meinem Tagebuch:

Während des Essens sagte meine Mutter als Erstes irgendwann: "Und, erzähl mal.", aber die Fragen waren eher oberflächlich. Es ging mehr um die Klinik als um mich und meinen persönlichen Fortschritt. Wenn ich doch davon erzählte, wurde die Stimmung auf einmal sehr komisch. Es wurde mir sehr unangenehm, darüber zu reden. Sobald ich einem anderen Thema nahe kam, wurde das Gespräch direkt auf dieses gelenkt und wir unterhielten uns mehr über andere Themen als über mich. Erst im Nachhinein, als ich über die Zeit reflektierte, merkte ich, dass ich mich damit ungesehen, unwichtig und nicht ernst genommen gefühlt habe. Wie kann man sich so wenig für sein eigenes Kind interessieren? Ist die eigene Angst so viel größer als die Liebe zu mir?

Jedenfalls ging der Tag auch irgendwann vorbei - wir drehten noch eine Runde in der Stadt und durch den Park zum Mammutbaum. Im Park stiegen meine Mutter und ich auf eine der komischen Wippen und schwangen hin und her, auch wenn ich zunächst keine Lust dazu hatte. Mein Vater sah zu, während wir auf der Wippe alberten und lachten.

Ich konnte an dem Abend kaum einschlafen. Ich bestellte eine Baldrian-Tablette vom Nachtpfleger.


Der Tag danach war der schlimmste. Meine Eltern blieben wie verabredet mit ihrem Wohnmobil über Nacht vor der Klinik, damit wir den zweiten Tag ebenfalls gemeinsam verbringen konnten. Wir wollten in den nahegelegenen Zoo.

Um das ganze kurz zu fassen: Es war unangenehm und für mich unglaublich stressig. In dieser Klinikzeit war ich sehr emotional aufgewühlt und empfindlich, da sich meine harte Schale geöffnet hatte und ich in Maßen alles zu verdauen versuchte. Nun befand ich mich wieder in einer Konstellation, die jahrelang für mich traumatisch war. Meine Eltern haben einen ungesunden Umgang miteinander, an den sie sich jedoch bereits so gewöhnt haben, dass es ihnen gar nicht mehr auffällt. Ständig muss mein Vater meine Mutter beleidigen und kleinreden oder kritisieren, während ich stumm daneben stand und alles stillschweigend mit ansehen musste. Ich wollte so gerne eingreifen, zumindest sagen, dass es mich in dem Moment verletzte, doch ich wusste, wenn ich das umsetzen würde, würde der ganze Tag ein einziger Streit werden und dafür hatte ich keine Kraft. Ich stumpfte ab und dissoziierte die meiste Zeit. Mein Vater gab wie immer den Ton an, obwohl er selbst keinen genauen Plan hatte. Mir fiel auf, dass er immer von einem "wir" sprach, statt von sich selbst und sich die Meinungen anderer anzuhören. Nach ein paar weiteren Zickereien (die in seinen Augen ja keinesfalls welche waren), fuhren wir wieder in die Stadt, um ein Restaurant zu finden. Das gleiche Spiel begann von vorne. Ich schlug einen einfachen Weg vor, aber mein Vater sagte ein drittes Mal verbissen "Wir schauen jetzt mal, was wir finden!". Gern. Ich hab' einen Parkplatz vorgeschlagen und nach einem Restaurant gefragt, nachdem ich ein paar aufgezählt hatte, aber du entscheidest wieder für uns alle. Der Parkplatz war am Ende nur mit Parkscheibe für 1h zu benutzen und das ganze hat uns 2 Minuten Gehzeit eingespart, die wir bei der Suche nach einem Parkplatz ums dreifache verfahren hatten. Ich fragte ein letztes Mal, als würde ich mit einem Kleinkind reden: "Also. Meine Vorschläge kennt ihr schon. Ich würde gerne zum Griechen gehen, aber was möchtet ihr gerne?"

"Wir gehen jetzt einfach diese Straße runter und schauen, was uns anspricht.", wiederholte mein Vater und stiefelte los, meine Mutter ihm hinterher. Also entschied ich mich einfach zu allen Restaurants "nein" zu sagen, bis wir beim Griechen angekommen waren. Dort ging der Spaß in die zweite Runde, als mein Vater meine Mutter anschnauzte, sie solle doch "ein Mal Respekt!!" zeigen, weil sie ihren Hund im Weg der Bedienung liegen ließ. Ich war durch. Aus meinem Todesblick wären beinahe Laserstrahlen geschossen, so wütend habe ich ihn angestarrt.

An den Rest des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich lag irgendwann im Bett und wachte am nächsten Tag wieder auf.


Allerdings war ich am nächsten Morgen nicht mehr alleine, denn eine anschmiegsame Depression hatte sich an meine Seite gesellt. Ich fühlte nichts mehr. Ich war wie innerlich gestorben. All mein Fortschritt und meine Freude in den letzten Tagen, wie durch die Luft geblasen. Weg.

In den folgenden Tagen führte ich auch kein Tagebuch und konnte mich auch an nichts mehr erinnern, um es nachzutragen.


In den nächsten 5 Tagen war meine Depressive Episode deutlich zu spüren. Ich isolierte mich wie an den ersten Tagen nach meiner Ankunft, verspürte weder Hunger noch Bedürfnisse und schlief die meiste Zeit. Immer mal wieder passierte jedoch auch etwas gutes: Ich ging draußen mit Musik auf den Ohren für mich spazieren, machte Yoga mit einer guten Freundin, die zu meiner Klinik-Familie gehörte, unter freiem Himmel, schlich Abends in ihr Zimmer um zu zeichnen oder mit ihr einen Film zu sehen und dann war da noch dieser herzerwärmende Moment: Ich saß im Foyer im unteren Stockwerk alleine in einem blauen Sessel, weil dort nie jemand aufkreuzte und hörte Musik. Da kamen zwei meiner liebsten Damen an und fingen an zu tanzen. Ich schaltete laut Salsa Musik dazu ein und die beiden gaben sich eine kleine Tanzstunde. Ich strahlte dabei über das ganze Gesicht. Diesen kurzen Moment und das Gefühl von "Leben" werde ich nie vergessen.

Dann bekam ich Besuch von meiner festen Freundin. Wir gingen draußen spazieren, sahen die Burg und ein paar andere Sehenswürdigkeiten, wurden vom Regen überrascht und aßen im Restaurant zu Abend. Dort öffnete ich mich ihr und erfuhr nur die wärmsten Worte und so viel Verständnis und Ermutigung, dass es mich aus Liebe zu Tränen rührte. Es war der komplette Kontrast zu dem Tag mit meinen Eltern, mit denen ich im selben Restaurant gesessen hatte. Ich war beinahe überwältigt davon.


Als ich meine Therapeutin nach ihrem Urlaub endlich wiedersehen konnte, hatte ich ihr so viel zu erzählen: der Durchbruch mit meiner Versöhnung, das Gespräch mit meinem kleinen Ich, der Albtraum und das Wochenende mit meinen Eltern.

Auszug aus meinem Tagebuch:

Als ich ihr vom Albtraum erzählte, von dem sie wissen wollte, meinte sie dazu: "Vielleicht waren sie auch dieses Einhorn-artige Wesen, weil sie sich so als Ganzes und als was Besonderes erkannt haben." So habe ich das noch nicht gesehen, das kann natürlich sein. Ich fühlte mich zumindest mittlerweile auch genau so. Ich wollte, dass mein Vater die Besonderheit und Vollkommenheit in mir sieht, bekam aber keine Beachtung. Ich wollte, dass er sieht, dass ich verloren gehen kann.

Spannend. Weil ich den Grund für mein mystisches Erscheinen gar nicht hinterfragt hatte.


Sie riet mir auch ab, meine Eltern am kommenden Wochenende direkt wieder zu sehen, was ich ihnen auch mitteilte. Ich bekam eine Hausaufgabe von ihr, in der ich alles aufschreiben sollte, was ich mir als Kind von ihnen gewünscht hätte. Ich haderte sehr, als ich begann zu schreiben. Ich fühlte mich schlecht, solche hypothetischen (!) Forderungen zu stellen, was mir allerdings auch wieder zeigte, dass ich keineswegs so viel Selbstliebe in mir trage, wie ich von mir gedacht hatte. In der nächsten Sitzung würden wir das Niedergeschriebene gemeinsam durchgehen und besprechen.


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