Meine Zeit in der Klinik - Phase 2 - Verzeihen und Selbstakzeptanz

24.09.2024

Ich muss zugeben, ich war eine sehr akribisch am Selbstheilprozess interessierte Patientin. Das bekam ich auch das ein oder andere Mal von Therapeuten zu hören. Ich war gewillt, alles zu fühlen, vor keiner Erkenntnis, vor keinem alten Schatten Angst zu haben. Ich wollte endlich alles angehen und hinter mich bringen, denn das ständige Leiden wollte ich nicht mehr ertragen. Meine Einstellung war schon fast so etwas wie: "Come on, hurt me!! Bring it on, I'm not scared!", denn wenn nicht hier und jetzt, wo ich die Chance habe und Zeit hinein investiere, wann dann?? Keine halben Sachen!

In meiner zweiten Einzeltherapie-Stunde kam ich mit einem Notizbuch an, in dem ich alles notiert hatte, was mir wichtig war zu besprechen. Die Therapeutin lachte und meinte: "Du bist ja richtig vorbereitet!"

An einem Thema hielten wir an. Ich erzählte ihr gerade von meiner kürzlich diagnostizierten ADHS und dass ich dafür noch keine Therapie gefunden hatte, was ich dadurch alles zwar nun an mir verstand, aber nicht immer akzeptieren konnte.

"Es ist, als würde ich über eine Straße fahren, die mit riesigen Schlaglöchern übersehen ist, die ich aber nicht voraussehen kann. Egal wie gut ich vorankomme und mich anstrenge, egal wie gut ich fahre, ich lande immer wieder in einem dieser Schlaglöcher und kann nichts dagegen tun. Es frustriert mich, als würde ich mich, oder eher mein Gehirn, sich selbst sabotieren. Ich möchte doch, dass andere sich auf mich verlassen können, aber ich kann mich ja nicht mal auf mich selbst verlassen! Es kann immer jederzeit etwas schiefgehen und ich habe überhaupt keinen Einfluss darauf, keine Kontrolle! Ich werde niemals so gut sein, wie ich eigentlich könnte. Und dann hasse ich mein Gehirn dafür. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich selbst hasse, ich liebe mich ja, ich bin die meiste Zeit so stolz auf mich und denke, es ist alles in Ordnung. Aber in solchen Momenten hasse ich mein Gehirn so sehr, weil es sich so unfair anfühlt, als wäre da ein Parasit in meinem Kopf, der mir das Leben schwer macht, wann immer er Lust dazu hat."

Vielleicht kannst du das nachempfinden oder hast schon mal dasselbe gedacht. Dann lies jetzt die Worte, die meine Therapeutin daraufhin zu mir gesagt hatte.

"Du kannst nicht diesen einen Teil deines Gehirns hassen und denken, dass du dich selbst liebst. Dass du diesen Teil als 'Parasit' bezeichnest, ist schon sehr hart. Denn das bist auch du, es ist ein Teil von dir. …Stell dir vor, du hättest Diabetes. Würdest du dich auch dafür hassen, weil du nicht alles essen kannst, was du willst? Oder erkennst du es an, dass weder du noch dein Körper etwas dafür können? Jeder Mensch hat hier und dort seine gegebenen Grenzen. Aber du kannst dich trotzdem lieben, auch mit deinen fehlenden Teilen. Und wenn du durch Schlaglöcher fährst, 'so what?', dann fährst du weiter. Du bist wie du bist und du bist auch dafür gemacht, durch diese Schlaglöcher zu fahren und heil wieder herauszukommen, das ist einfach Teil deines Lebens."

Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie ich wieder angefangen habe zu Weinen. Ich bemerkte, wie ungerecht ich mein Gehirn mit ADHS behandelt hatte, nur weil es manchmal nicht so funktionierte, wie ich es gern hätte. Ich hatte einen Teil von mir verachtet, der nichts dafür konnte und zu mir gehörte. Ich fühlte mich schlecht, sogar schuldig. Es mag albern klingen, aber wie ich bereits sagte, ich bin 'all in' und zu allem bereit, ohne Angst vor dem Prozess. Also ging ich nach dem Gespräch (und einer total schönen Umarmung, die ich der Therapeutin geben musste, weil mich ihre warmen Worte so berührt hatten) auf die kleine Wiese unter den Baum und setzte mich ins Gras.

"Es tut mir Leid, dass ich so gemein zu dir war. Ich will dich nicht hassen. Ich liebe dich.", sagte ich zu meinem Gehirn und damit zu mir selbst. Ich streichelte sogar zärtlich über meinen Kopf und weinte heftig dabei. Es fühlte sich richtig an und sehr, sehr heilend. Das Streicheln besonders, als würde ich mich mit mir selbst vertragen und mir nur Gutes wollen. Es tat mir unglaublich gut, mir selbst so eine Zuneigung zu schenken, fast so, als würde meine Mutter das gerade tun. Ich bin nicht mein Feind, sondern alles, was ich habe und alles, was ich mir geben kann. Mir war gar nicht bewusst, dass ich zum Teil solch einen Selbsthass in mir trug. Ständig beleidigte ich mich selbst, wenn mir etwas nicht gelang, doch damit war jetzt Schluss.


Auch heute noch, wenn ich einen Fehler mache oder etwas vergessen habe und dazu neige aus Gewohnheit zu mir selbst zu sagen "du bist so dumm!!", halte ich inne und sage direkt danach: "Nein, ich bin nicht dumm. Mir passieren nur manchmal Missgeschicke."

Manchmal nenne ich sie auch gerne 'Hoppalas'. <3

Seitdem kann ich das auch anderen sagen, wenn ich 'Mist' gebaut habe. Mir passieren eben manchmal Missgeschicke. Aber ich fühle mich nicht mehr so unsäglich schlecht deswegen, sondern stehe gerade und kann weitergehen, den Fehler beheben und über das Missgeschick reflektieren, ohne mich dafür zu verurteilen und sauer zu sein.

Das ist einer der vielen Schritte, die mich nach vorne gebracht haben und mich stärker und gesünder haben werden lassen.


Als ich auf dieser Wiese saß und mich bei meinem Gehirn entschuldigte, hat sich etwas in mir geöffnet. Ich dachte mir, ich nutze diese Chance und gehe noch einen Schritt tiefer.

Wenn ich schon dabei war, mich bei mir selbst zu entschuldigen und mir Liebe zu geben, dann…

Ich sah nach vorne. Eine Reihe großer Bäume begrenzte die Wiese. Ich versuchte, mir mein kleines Ich vorzustellen, wie es vor mir stand. Ich, wie ich in einer Zeit ausgesehen habe, als ich noch ganz jung war. Ich sah allmählich eine jüngere Version von mir, sie veränderte sich ein wenig, formte sich, bis mein Bild von meinem kleinen Ich für mich feststand. Ich war etwa 5 Jahre alt, trug ein zweiteiliges, sonnengelbes Kleid, das nach unten hin in ein sattes Orange verlief. Ich liebte dieses Kleid. Es war leicht und so strahlend, wie die Energie, die ich oft in mir spürte und die ich sein wollte. Ich weiß nicht, wieso sich diese Version vor meinen Augen ergab, aber ich nahm sie an. Ich sah meinem jüngeren Ich in die Augen und spürte in mich hinein. Es passierte so viel. Der Blick auf dem Gesicht des kleinen Mädchens verriet, was für eine reine Seele in diesem Kind schlummerte. Ein reines Wesen, ohne bösen Absichten, ohne Hass, ohne Vorurteile und völlig unbesorgt. Voller Träume, Potential, Charakter und Stärke. Aber es sah auch traurig aus. Alleine. Ich fing an zu schluchzen. Ich sah es mit so viel Kummer an und fing an den Kopf zu schütteln, während mir die Tränen wie ein Wasserfall hinunter liefen. Ich fühlte so vieles auf einmal. Liebe, Trauer und irgendwie auch Wut.


Die Liebe fühlte ich für mich selbst. Ich wollte nichts lieber, als das kleine Mädchen in den Arm zu nehmen, es ganz fest zu halten und zu wärmen, ihm all die Liebe zu geben, die ich konnte. Denn ich spürte, dass es das war, was es sich am meisten wünschte. Ich sah es in den großen, dunkelbraunen Rehaugen und dem weichen Blick, der traurig und sehnsüchtig wirkte.

Ich wollte doch nur Liebe. Sicherheit. Akzeptanz. Ruhe. Frieden. Mehr nicht. Ich wollte einfach nur sein dürfen.

Kleine, reine Seele.

Warum musste ich mir Liebe verdienen?

"Ich liebe dich, so so sehr. Ich liebe dich über alles.", sagte ich zu ihr und Wärme stieg in mir auf, gefolgt von großer Trauer.


Die Trauer fühlte ich, für all den Schmerz, der sich in diesem Kind gesammelt hatte. Ich fühlte mich oft allein, auch wenn ich nicht alleine war. Ich fühlte mich in meiner Fantasiewelt alleine. Das war der Ort, an den ich mich so gerne flüchtete, aber niemand konnte mich dorthin begleiten.

"Halloooo! Du bist ständig am Träumen, wenn man mit dir spricht!", hallte die Stimme meiner Mutter durch meinen Kopf.

Ich wusste nicht, wie ich meine Trauer fühlen sollte, oder ob ich es überhaupt durfte. Also sammelte ich sie in mir drin, bis sie zu diesem großen festen Klumpen wurde, den ich bis zu diesem Tag in der Klinik in mir sitzen spürte.

"Warum weinst du, huh?? Ich geb' dir gleich einen Grund zum Weinen!!"
Mein Vater hob seinen Zeigefinger und versteifte ihn. Ein dumpfer Stich in meinen Bauch.
"Du gehst doch ins Taekwondo, du solltest sowas abkönnen!"
Ein Zweiter. Ich fiel auf den Boden und schnappte nach Luft.

Ich weinte für mich. Ich weinte so sehr, wie ich noch nie zuvor geweint hatte, weil das kleine Mädchen es nicht konnte. Weitere Erinnerungen kamen hoch, ungenaue, unklare Bilder, aber die Emotionen dazu waren klar. So viele Momente, in denen ich mich unverstanden und ungerecht behandelt gefühlt hatte, in denen ich alleine war oder alleine gelassen wurde, in denen ich ausgegrenzt und beleidigt wurde. So viele, unendlich viele Momente, in denen ich nicht verstand, warum ich falsch war.

"Es tut mir Leid, dass du so traurig warst, dass du so viel Leiden musstest. Es tut mir Leid, dass du auch damit alleine warst. Es tut mir so Leid, für alles, was du schlechtes fühlen musstest.", sagte ich mit schwacher Stimme. Der Knoten in meiner Brust löste sich allmählich und langsam. Dann kam die Wut.


Die Wut spürte ich für alle, die dem kleinen Mädchen weh getan hatten. Die gemein zu ihr waren, sie verurteilt haben, ausgegrenzt und ausgelacht haben. Stimmen aus Erinnerungen schallten durch meinen Kopf.

"Was glotzt du so?!"

"Haha, rate mal, wo deine Schuhe sind? Hahahahaha!"

"So, dann findet euch bitte in Zweiergruppen zusammen-"

"Wusstest du, dass sie wegen Mobbing auf unsere Schule gewechselt hat? So ein Opfer!"

Doch genauso viel Wut empfand ich für alle, die nichts dagegen getan hatten, die es einfach haben geschehen lassen, für alle, die ihr hätten zur Seite stehen können, es aber nicht taten. Ich war so wütend. Auf all die Ungerechtigkeit, die Gehässigkeit, die Kälte und Abweisung. War ich allen egal? War ich es nicht wert, dass man mich schützte oder für mich einstand? Wie kann man so ein kleines, liebes Wesen so verletzen? Wie kann man eine Seele so zerbrechen, zerstampfen und verbiegen?

Zu den Stimmen kam auch die meines Vaters, die immer lauter wurde und sich in den Vordergrund drängte.

"Du kannst ja nichts dafür, das ist eine Behinderung! Doch, das ist Fakt!"

"Mach doch mal was gescheites, nicht immer diesen… Scheiß da!! Du verblödest total!"

"Du lässt dein ganzes Leben verstreichen, krieg doch mal deinen Arsch hoch und tu was!"

"Am Ende wirst du einsam sterben, man sieht es dir an, dass du keinen Freund hast, dir wird immer etwas fehlen!"

"Du denkst, die Leute akzeptieren dich, aber sie tun nur so, weil sie es müssen. Sie denken sich ihren eigenen Teil."

"Glaub mir, wenn wir umgezogen sind, ist sie nicht mehr deine Freundin, ich weiß das."

Die Wut richtete sich nun an meinen Vater und ich fragte mich: Wie kann man sein eigenes Kind so verachten? So kleinmachen? Wie kann man diese reine Seele einfach in den Boden stampfen, wenn sie doch so völlig perfekt auf die Welt kam? Sie war perfekt! Sie war ganz…! Ich schrie innerlich. Ich wollte vor Wut irgendetwas zerreißen. Wie kann man einer kleinen Seele nur so wehtun. Ich hasste sie alle für ihr Verhalten, das ich niemals verstehen werde. Ich sah meinem kleinen Ich wieder in seine rehbraunen Augen, die so voller Leben glitzerten und mich ansahen. Ihr Blick war so unschuldig, sie wusste von Nichts, ahnte nichts von dem, was noch kommen sollte, und es brach mir das Herz.

"Es ist ungerecht, was sie dir antun. Es ist ungerecht, was man dir zuschreibt und dir ins Gesicht schreit. Es gibt keinen Grund, dich zu hassen oder dich fühlen zu lassen, als würdest du gehasst werden. Es ist einfach nicht fair. Du hast keine Schuld daran und es tut mir so Leid, dass du das alles erfahren musst. Es tut mir Leid, dass alles so passieren wird. Keiner hat das Recht dazu, dich so zu behandeln."


Ich holte mein kleines Ich zu mir auf den Schoß und versuchte es zu halten. Schwierig, wenn das nur eine Projektion ist, aber ich versuchte es mir so gut es ging vorzustellen. Sie schmiegte sich an mich und rollte sich zu einem kleinen Päckchen zusammen. Ich sah ihre Seele und wie vollkommen sie ist, ohne die Fehler, die man ihr zuschreiben würde. Ich fasste dadurch Frieden zu wissen, dass ich einst so war, dass an mir nie etwas falsch war und dass nur die Welt mich hat glauben lassen, dass ich an meiner Seele etwas ändern müsste. Es waren die anderen, die nicht damit klar kamen, wie ich war. Es war ihr Problem, dass sie mich haben spüren lassen. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, könnte ich jedoch nichts an alldem ändern. Ich war ein gutgläubiges Kind und kannte die Welt nicht und nahm die Version der Wahrheit, die andere mir aufgezeigt haben, einfach an. Es konnte einfach nicht anders kommen. Ich akzeptierte, was passiert war, hielt mich an meinen eigenen Armen fest und kam zur Ruhe.


Ich kam zu dem Schluss:
Ich war niemals falsch. Ich war immer ich. Es war ungerecht, dass man mich etwas Anderes hat glauben lassen. Das alles ist passiert und ist nun vergangen. Ich durfte darauf wütend sein. Ich habe meine Trauer gespürt und akzeptiert und ich habe mir selbst verziehen, dass ich zu mir selbst so gemein war. Ich habe mir selbst Liebe gegeben und werde das weiterhin tun.

Denn wenn ich von Jemandem auf dieser Welt bedingungslose Liebe erwarten kann, dann von mir selbst, also warum habe ich sie mir nicht gegeben?


Auszug aus meinem Tagebuch:

Ich schrieb meinen Eltern, dass ich einen Durchbruch hatte, woraufhin sie gefragt haben, was mich die ganze Zeit so belastet hat. Auch mein Vater schrieb, dass ihn das sehr interessiere. Ich antwortete nicht. Ich konnte darauf nicht antworten. Was soll ich ihnen denn jemals sagen???


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